Libanesischer Priester appelliert: "Lasst den Libanon nicht im Stich"
Melkitischer Theologe Gabriel Hachem zu Gast in Wien - Situation im Libanon in jeder Hinsicht katastrophal: "Angst regiert" - Aufgabe der Kirchen ist es, trotz allem Hoffnung zu geben
Wien, 14.11.24 (poi) Der libanesische Priester und Theologe Prof. Gabriel Hachem hat an den Westen appelliert, den Libanon und seine Not leidende Bevölkerung nicht aus den Augen und dem Herzen zu verlieren. "Wenn unsere Freunde und Partner keine Hoffnung mehr auf eine bessere Zukunft für unser Land haben, wie sollen dann wir Libanesen noch Hoffnung bewahren? Lasst den Libanon nicht im Stich", so Hachem im Interview mit dem PRO ORIENTE-Informationsdienst. Die aktuelle Lage im Libanon bezeichnete der Geistliche als schlichtweg katastrophal. Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel habe das ohnehin schon von einer verheerenden sozialen, wirtschaftlichen und humanitären Krise gebeutelte Land noch tiefer ins Elend gestürzt. Hachem wörtlich: "Die Angst regiert überall und über jeden."
Seit seiner Unabhängigkeit habe der Libanon eigentlich nie wirklich Frieden und Stabilität erlebt. "Ich bin 62 Jahre alt und erleben bereits meinen fünften Krieg", sagte Hachem. Gerade in dieser Situation seien die Kirchen gefordert, den Menschen Hoffnung zu geben, zeigte sich der Geistliche überzeugt. Er ist Priester der Melkitischen Griechisch-katholischen Kirche und lehrt an der Heilig-Geist-Universität von Kaslik (Libanon).
Solidarität beginne nicht mit Hilfsprojekten bzw. Geld, sondern mit Präsenz und Aufmerksamkeit, so der Geistliche. Es gehe um Respekt und Wertschätzung den Menschen gegenüber und darum, sie in ihren schwierigen Lebensumständen wahrzunehmen.
Der libanesische Geistliche ist seit mehreren Jahren eng mit der Stiftung PRO ORIENTE verbunden. So gehört er als Mitglied der "We choose abundant life"-Gruppe dem Team an, das im gesamten Nahen Osten und in Österreich ökumenische Jugendworkshops veranstaltet. Er unterrichtete auch bereits im PRO ORIENTE-Summer Course und nimmt aktiv am Projekt "Healing of Wounded Memories" teil. Hachem ist derzeit in Wien, um bei der internationalen Tagung an der Katholisch-theologischen Fakultät der Wiener Universität am 14./15. November über die Bedeutung der katholischen Ostkirchen einen Vortrag über die Geschichte dieser Kirchen im Nahen Osten zu halten.
Auch wenn es nur kleine Tropfen der Hoffnung sind, so seien die ökumenischen Nahost-Jugendworkshops der Stiftung PRO ORIENTE so ungemein wichtig, "denn für die teilnehmenden Jugendlichen bringen sie sehr viel Hoffnung und Zukunftsperspektiven", betonte Hachem. Am Mittwoch war er zu Gast in den Räumlichkeiten der Stiftung und traf unter anderem mit einer PRO ORIENTE-Delegation unter Leitung von Präsident Alfons M. Kloss zusammen. Dieser versicherte Hachem, dass die Stiftung ihr Engagement im Libanon wie im gesamten Nahen Osten auch künftig fortsetzen werde, insbesondere im Rahmen der von Projektkoordinatorin Viola Raheb verantworteten Aktivitäten zur Förderung des Engagements junger Menschen aus allen in der Region vertretenen Kirchen.
Die Pluralität der Religionen und Völker im Libanon bezeichnete Hachem als Wesensmerkmal des kleinen Landes. Es gibt im Libanon18 anerkannte Kirchen und Religionsgemeinschaften. Nirgendwo im Nahen Osten gibt es zudem prozentual so viele Christinnen und Christen wie im Libanon. Deren Zahl sei in den vergangenen Jahrzehnten allerdings deutlich zurückgegangen, räumte Hachem ein. Weil seit 1932 keine Volkszählung mehr stattgefunden hat, liegen allerdings keine verlässlichen Schätzungen für die Größe der einzelnen Glaubensgemeinschaften vor. Noch in den 1950er Jahren dürften die christlichen Gemeinschaften zusammen die Mehrheit im Land ausgemacht haben. Inzwischen ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung zurückgegangen, wobei optimistische Schätzungen von ungefähr 35 Prozent ausgehen. "Es könnten aber auch nur mehr 20 bis 30 Prozent sein", so Hachem. Die Kirchen im Libanon seien freilich öffentlich sehr präsent. Dies zeigt sich nicht nur im liturgischen Leben, sondern auch in den zahlreichen kirchlichen Sozial- und Bildungseinrichtungen.
Die innenpolitische Lage ist im Libanon, auch aufgrund des ausgeprägten Konfessionalismus, sehr komplex und wenig stabil. Eine besondere moralische Autorität kommt im Libanon dem maronitischen Patriarchen - derzeit Kardinal Bechara Boutros Rai - zu. Die höchsten Staatsämter sind Mitgliedern bestimmter religiöser Gruppen vorbehalten: Das Staatsoberhaupt muss ein maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim und der Regierungschef sunnitischer Muslim. Diese Regelung wurde zuletzt zwischen den Vertretern der Konfessionen im Abkommen von Taif (1989) bestätigt. Im Parlament mit 128 Mitgliedern sind 64 Sitze für christliche und 64 für muslimische Abgeordnete "reserviert".
Der Libanon hat allerdings seit fast zwei Jahren keinen Präsidenten mehr - ein Amt, das im libanesischen System einem maronitischen Christen zusteht, und das in den Augen vieler Expertinnen und Experten ein Symbol für das Zusammenleben und die Achtung der Pluralität im Land ist. Auch die Regierung ist eigentlich zurückgetreten, die Ministerien befassten sich nur noch mit den notwendigsten Angelegenheiten. Hachem bezeichnete es als absolut dringlich, endlich wieder einen funktionierenden Staatsapparat im Libanon aufzubauen.