Kardinal Zenari: Die Menschen in Syrien nicht vergessen!
Nuntius in Syrien im "AsiaNews"-Interview über dramatische humanitäre Situation im Land
Die syrische Bevölkerung leidet mehr Not als zu den schlimmsten Kriegszeiten. Darauf hat der Apostolische Nuntius in Syrien, Kardinal Mario Zenari, einmal mehr aufmerksam gemacht. In einem aktuellen Interview mit dem Nachrichtendienst "AsiaNews" beklagte Zenari, dass Syrien zugleich vom internationalen Radar verschwunden sei und durch andere Notfälle überlagert werde; sei es die Libanonkrise, die Pandemie oder nun der Ukraine-Krieg.
Zu einer rund halben Million Todesopfer durch den Krieg kommen laut Nuntius etwa 14 Millionen Obdachlose, knapp sieben Millionen Binnenvertriebene und weitere sieben Millionen Flüchtlinge in den umliegenden Ländern. Dazu kämen noch 13 Millionen Menschen, die dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, so Zenari. Auch die UNO hatte zuletzt davon gesprochen, dass inzwischen mehr als 90 Prozent der syrischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben.
Die Lage im Land sei trostlos und perspektivlos. Vor allem die jungen Menschen würden nach Möglichkeiten suchen, das Land zu verlassen. Das treffe vor allem auf die besser Ausgebildeten zu, was das Land weiter schwächen werde. Auch die christlichen Gemeinden seien davon massiv betroffen. "Bis heute ist mehr als die Hälfte der christlichen Gemeinschaft ausgewandert", so der Nuntius. Nicht wenige würden dabei im Westen auch ihre ostkirchliche Identität verlieren, "weil sie gezwungen sind, sich einer lateinischen Mehrheitskirche anzuschließen". Die Auswanderung der Christen sei zugleich auch ein großer sozialer Verlust für Syrien, weil sie etwa wesentliche Beiträge zum Bildungs- und Gesundheitssystem leisteten.
Der Kardinal und Vatikandiplomat vertritt den Papst seit 2008 in Damaskus. Er blieb auch während der schlimmsten Kämpfe um Damaskus in der syrischen Hauptstadt, als so gut wie alle Botschaften längst geschlossen waren. Zenari: "Ich habe viel Leid erlebt, ich habe versucht, an diesem Leid teilzuhaben und es zu teilen, ein Schmerz, der sich über ganz Syrien erstreckt. Ich habe versucht, dieses Meer von Schmerz zu teilen, ich fühle mich diesem Volk zutiefst verbunden." Und: "Ich habe das Leid so vieler Kinder erlebt, die die ersten Opfer und die Hauptopfer dieses Konflikts sind."
Zugleich habe er aber auch viel Solidarität erlebt, ergänzte Zenari. Er verwies etwa auf das Projekt "Offene Spitäler", das er gemeinsam mit weiteren Hilfsorganisationen ins Leben gerufen hatte. Mit dem Projekt konnte in drei katholischen Krankenhäusern in den vergangenen fünf Jahren mehr als 80.000 armen Patienten aller Ethnien und Religionen kostenlos geholfen werden. "Wir wollen zwei weitere katholische Kliniken errichten, um 100.000 arme kranke Menschen jeder ethnischen Zugehörigkeit und Religion zu erreichen", kündigte der Nuntius an.
Als positives Beispiel erinnerte Zenari auch an eine Konferenz im vergangenen März in Damaskus, an der die katholischen Bischöfe Syriens sowie Vertreter von Hilfswerken und des Vatikans über anstehende karitative Aktivitäten der Kirche in dem Bürgerkriegsland berieten. Freilich räumte der Nuntius ein, dass alle humanitären und karitativen Aktivitäten letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein seien. Es brauche endlich eine politische Lösung für Syrien. Und davon sei nach wie vor kaum etwas zu bemerken, kritisierte Zenari.