Existenz des letzten armenischen Dorfes in der Türkei gerettet
Dem Dorf Vakıflı drohten großflächige Enteignungen zugunsten eines Wohnbauprojekts - Armenischer Patriarch Sahag II. berichtete PRO ORIENTE-Delegation bei Begegnung in Istanbul von erfolgreicher Beschwerde gegen das Projekt

Die Existenz des letzten von Armeniern bewohnten Dorfes in der Türkei - Vakıflı - scheint nun doch gesichert. Vakıflı liegt in der Provinz Hatay und zählt nicht einmal 150 Einwohnerinnen und Einwohner, die großenteils der Armenisch-apostolischen Kirche angehören. Ein geplantes Wohnbauprojekt hätte einerseits zu Enteignungen geführt, zum anderen einen dramatischen demografischen Wandel mit sich gebracht. (Der PRO ORIENTE-Informationsdienst berichtete darüber im Februar)
Nun konnte das Projekt aber abgewendet werden, wie der armenisch-apostolische Patriarch von Istanbul, Sahag II. Maschalian, berichtete. Der Patriarch empfing am vergangenen Freitag eine Delegation der Linzer PRO ORIENTE-Sektion mit Bischof Manfred Scheuer und dem Sektionsvorsitzenden, Altlandeshauptmann Josef Pühringer, an der Spitze. Dabei berichtete er u.a., dass man von Seiten der Kirche gegen das Projekt Beschwerde eingelegt habe, die letztlich erfolgreich war.
Beim verheerenden Erdbeben in der Südosttürkei im Februar 2023 wurde das Dorf Vakıflı wie die gesamte Region heftig getroffen, viele Gebäude wurden zum Teil schwer beschädigt. Die türkischen Behörden planten u.a. in Vakıflı ein großes staatliches Wohnbauprojekt. Medien berichteten, dass dabei fast die Hälfte des Dorfes von Enteignungen bedroht gewesen sei. Die Dorfbewohner befürchteten darüber hinaus, dass das Wohnungsbauprojekt das historische, kulturelle und soziale Gefüge des Dorfes verändern würde.
Bei den Bewohnern von Vakıflı handelt es sich um Nachkommen jener 4092 Armenierinnen und Armenier, die während der vielfach als Völkermord bezeichneten massenhaften Vertreibungen und Tötungen armenischer und syrischer Christen im Jahr 1915 entkamen und am nahegelegenen Berg Musa Dağ Zuflucht fanden. Sie wehrten 53 Tage lang die Angriffe der osmanischen Truppen ab, bis die Besatzung eines französischen Kriegsschiffs eine Fahne mit der Aufschrift "Christen in Not: Retten" sah. Die armenischen Flüchtlinge wurden von den Franzosen in die ägyptische Hafenstadt Port Said evakuiert und kehrten nach Kriegsende wieder in ihre Heimat zurück.
Die damaligen Ereignisse bildeten die Grundlage für Franz Werfels bekannten Roman "Die 40 Tage des Musa Dagh". Die Dorfbewohner sprechen untereinander in einem einzigartigen lokalen armenischen Dialekt, der als Musa Dağ-Armenisch bekannt und mit arabischen und türkischen Wörtern durchmischt ist.
Christen in der Türkei
Im Mittelpunkt des Gesprächs von Patriarch Sahag II. mit der PRO ORIENTE-Delegation stand die Situation der kleinen christlichen Minderheit in der Türkei und die ökumenischen Beziehungen zwischen den Kirchen. Die oftmals kolportierte Zahl von 70.000 bis 80.000 armenischen Christinnen und Christen in der Türkei hielt der Patriarch für inzwischen längst überholt. Er sprach von nur mehr gut 40.000 Gläubigen. Davon wiederum würden fast alle in Istanbul leben. Die demografische Entwicklung mache ihm große Sorgen, so Sahag II.: "Auf eine Geburt kommen drei Todesfälle." 2050 werde man wohl nur mehr 10.000 Gläubige zählen.
Noch gebe es in Istanbul 17 armenische Schulen, die von 3.000 Kindern besucht werden. In Istanbul finden sich auch noch fast 50 armenische Kirche - davon 33 armenisch-apostolische, 12 armenisch-katholische und 4 armenisch-evangelische. Dem Patriarchen stehen für die Seelsorge rund 20 Geistliche zur Verfügung. Die meisten armenischen Gläubigen würden aber nicht mehr in jenen alten Teilen der Stadt leben, in denen sich auch die Kirchen befinden, sondern seien längst in moderne Viertel gezogen, allerdings ohne Kirchen.
Sahag II. verdeutlichte die Schwierigkeit mit dem Stadtteil Kumkapi, wo sich u.a. der Sitz des Patriarchats, die armenische Kathedrale und weitere Kirchen befinden. Einst lebten hier 40.000 armenische Gläubige, "heute sind es nur mehr 40", so der Patriarch.
Sahag II. erläuterte zudem die Bemühungen der Kirche, die armenische Sprache, Kultur und Identität zu bewahren. Noch gebe es zwei armenischsprachige Tageszeitungen und eine Wochenzeitung. Dabei würden aber wohl nur mehr 15 Prozent der Armenier in der Türkei die armenische Sprache entsprechend beherrschen.
Die Politik der türkischen Regierung gegenüber der Armenischen Kirche im Land beurteilte der Patriarch positiv. Er bekräftigte auf Anfrage, dass bessere Beziehungen zwischen der Türkei und dem Staat Armenien auch positive Auswirkungen auf die Armenier in der Türkei hätten. Ein verstärkter kultureller, wirtschaftlicher und kirchlicher Austausch wären wohl begrüßenswerte Folgen.
Insgesamt macht die einheimische christliche Bevölkerung in der Türkei nicht mehr als 85.000 Personen aus, sagte der Patriarch. "Wir können uns den Luxus der Kirchentrennung nicht mehr leisten", so seine Schlussfolgerung daraus. Man sei in der Türkei um eine vertiefte ökumenische Zusammenarbeit bemüht. In dem Gespräch drückte der Patriarch zudem auch seine Betroffenheit über den Tod von Papst Franziskus und sein Beileid aus.
1,5 Millionen armenische Opfer
Der Besuch der PRO ORIENTE-Delegation fiel zeitlich nahe mit einem für die Armenierinnen und Armenier weltweit bedeutsamen wie dramatischen Tag zusammen. Jedes Jahr am 24. April wird der bis zu 1,5 Millionen armenischen Opfer gedacht, die 1915 im Osmanischen Reich ums Leben kamen.
Im Blick auf die Ereignisse vor mehr als 100 Jahren - der Patriarch gebrauchte den Begriff "Genozid" nicht - meinte Sahag II., dass man die eigene Identität nicht nur auf diese tragischen Ereignisse aufbauen könne. "Wir gedenken der schlimmen Ereignisse und ehren die Opfer", aber: "Die Wurzeln für Probleme mögen in der Vergangenheit liegen, die Lösung liegt in der Gegenwart und Zukunft", so Patriarch Sahag.
Der Patriarch dankte für den Besuch der österreichischen Delegation, der als Zeichen der Solidarität der Kirchen in Österreich mit den Christinnen und Christen in der Türkei verstanden werde: "Er gibt uns Kraft und stärkt uns in unserem Bemühen, unsere eigene Identität zu bewahren. Wir fühlen uns zugleich als Teil der großen weltweiten christlichen Familie."
Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit
Bischof Scheuer bekräftigte diese Solidarität der Kirche in Österreich. Die heimischen Bischöfe würden etwa regen Anteil am Schicksal des armenischen Volkes nehmen, sei es in Armenien oder bei den tragischen Ereignissen in jüngster Vergangenheit in Berg-Karabach, in der weltweiten armenischen Diaspora oder auch in der Türkei. Der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit zwischen den Völkern und Religionen sowie ein Zusammenleben der Völker und Religionen in gegenseitiger Wertschätzung sei ein gemeinsames Anliegen.
Der Linzer Bischof, der in der Österreichischen Bischofskonferenz auch für ökumenische Fragen zuständig ist, würdigte zudem den spirituellen, kulturellen und historischen Reichtum der armenischen Kirche, von dem auch andere Kirchen profitierten. Armenien bzw. die Armenier zeigten, dass auch ein kleines, in seiner Geschichte von vielen Aggressoren gepeinigtes, bedrohtes und vertriebenes Volk eine große Kulturnation mit bedeutsamer Kirche sein kann, so Bischof Scheuer.
Die Delegation - ihr gehörte u.a. auch die oberösterreichische evangelische Superintendentialkuratorin Renate Bauminger an - und der armenische Patriarch tauschten auch Ostergrüße aus und bekräftigten den von allen geteilten Wunsch, künftig stets an einem gemeinsamen Termin Ostern zu feiern.