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Patriarch von Jerusalem: "Wir dürfen niemals aufgeben"

Kardinal Pizzaballa informierte bei Pressegespräch in Deutschland über dramatische Situation im Heiligen Land, über das Versagen der religiösen Führer, gemeinsam Friedensinitiativen zu setzen, und darüber, wie die Kirche den Kriegsopfern hilft

POI 240926

Fulda, 26.09.24 (poi) Der lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, hat bei einem Pressegespräch am Mittwoch im deutschen Fulda eindringlich an die religiösen Führer im Nahen Osten appelliert, sich gemeinsam für den Frieden einzusetzen. Das sei derzeit leider überhaupt nicht der Fall. Pizzaballa zeichnete ein ernüchterndes Bild der aktuellen Lage im Heiligen Land, informierte zugleich aber auch über die Hilfsprojekte der Kirche. Und er hielt fest: "Wir dürfen niemals aufgeben."

Die derzeitige schwere Krise habe nicht nur die Aussicht auf Frieden und Vertrauen in kurzer Zeit zerstört, sondern auch den jahrelangen interreligiösen Dialog und den mühsamen Aufbau von Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen und sozialen Gemeinschaften zunichte gemacht. Die politische Krise habe sich auch auf die Religionsgemeinschaften ausgewirkt, deren Führer sich seit elf Monaten nicht mehr treffen oder miteinander sprechen konnten. Pizzaballa: „Jeder ist jetzt in seinem eigenen Lebenskontext gefangen, innerhalb seiner jeweiligen Gemeinschaft, gefangen in seinem eigenen Schmerz, oft wütend, enttäuscht und ohne Vertrauen.“

Als eine der großen Schwierigkeiten im Heiligen Land bezeichnete Pizzaballa die Tatsache, "dass das eigene Herz so voll, so überflutet, so zerrissen ist vom Schmerz, dass für den Schmerz der anderen kein Platz mehr bleibt. Jeder sieht sich als Opfer, als einziges Opfer dieses abscheulichen Krieges. Wir wollen und fordern Empathie für unsere eigene Situation und fühlen uns oft verraten oder zumindest im Stich gelassen, wenn wir hören, dass andere Verständnis für diejenigen aufbringen, die anders sind als wir."

Dieser Krieg bedeute jedenfalls auch einen Wendepunkt in Bezug auf den interreligiösen Dialog, "der, zumindest zwischen Christen, Muslimen und Juden, nicht mehr der gleiche sein kann", so der Patriarch: "Nach Jahren des interreligiösen Dialogs verstehen wir einander nicht." Für ihn persönlich sei das ein großer Schmerz, aber auch eine wichtige Lektion. "Auf der Grundlage dieser Erfahrung werden wir in dem Bewusstsein, dass auch die Religionen eine zentrale Rolle bei der Orientierung spielen, neu beginnen müssen", zeigte sich Pizzabballa überzeugt.

Eine "tiefe Wunde für die Menschlichkeit"

Was am 7. Oktober im Süden Israels geschah und was jetzt im Gazastreifen geschieht, bedeute eine "tiefe Wunde für die Menschlichkeit" und für den Respekt vor der Person, so der Patriarch, und weiter wörtlich: "Ich habe Menschen getroffen, Israelis und Palästinenser, die von diesen Situationen betroffen sowie tief verletzt und gedemütigt sind, die aber auch Worte der Nähe, des Mitgefühls und des Verständnisses benötigen."

Bei diesen Begegnungen habe er das Gefühl gehabt, "dass es nicht ausreicht, ihnen zu versichern, dass alles Mögliche getan wird, um ihnen aus humanitärer Sicht zu helfen und sie zu unterstützen, was ja auch getan wurde". Er denke an die Christinnen und Christen, die in den Kirchen in Gaza eingeschlossen sind und die ebenfalls verwundet und betroffen sind.

Pizzaballa: "Es reichte nicht aus, ihnen die notwendige humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Sie brauchten ein Wort, das Nähe zum Ausdruck bringt." Ihm sei klar geworden, "dass wir nicht nur dafür sorgen müssen, dass unsere diözesanen Dienststellen Hilfe leisten, sondern dass sie auch mit einem Wort der Ermutigung, der Führung und Orientierung in einem Kontext zur Stelle sein müssen, der von völliger Hoffnungslosigkeit geprägt zu sein scheint." Den Bildern und Worten des Schmerzes und des Hasses müssten Bilder und Worte der Hoffnung und des Lichts entgegengehalten werden.

Man müsse den Mut aufbringen, "sich zu äußern. Man sollte nicht nur sagen, was man denkt, sondern auch darüber nachdenken, was man sagt, und sich bewusst sein, dass Worte ein entscheidendes Gewicht haben, vor allem in solch heiklen Situationen".

Pizzaballa: "Sprache schafft Meinungen. Sie kann Hoffnung, aber auch Hass wecken." Menschlichkeit, der Respekt vor der Würde der Menschen, vor ihrem Recht auf Leben und Gerechtigkeit beginne mit der Sprache. "Eine mit Gewalt, Aggressionen, Hass und Verachtung, Ablehnung und Ausschließung beladene Sprache spielt in diesem Krieg keine Nebenrolle, sondern ist eines der Hauptwerkzeuge in diesem und allzu vielen anderen Kriegen", betonte der Patriarch, und weiter: "Die Verwendung von Begriffen, die die Menschlichkeit der Mitmenschen verneinen, egal woher sie kommen, ist auch eine Form der Gewalt, die Gewalt in vielen anderen Kontexten und Formen ermöglichen oder sogar rechtfertigen kann. Dabei handelt es sich um Formulierungen, die möglicherweise noch mehr verletzen als Massaker und Bomben."

Plädoyer für eine nicht ausgrenzende Sprache

Jede Seite, die israelische und die palästinensische, habe ihr eigenes Vokabular, ihr eigenes Narrativ, unterschiedlich und unabhängig voneinander. Auf der israelischen Seite drehe sich das Vokabular etwa um das Konzept der Sicherheit. Auf der anderen Seite drehe sich alles um Besatzung und Gerechtigkeit. Um es klar zu sagen: "Diese Worte sind unantastbar, spiegeln eine echte Realität und Notwendigkeit wider und verdienen Respekt." Das Problem: Es handle sich um voneinander unabhängige Narrative, die sich nie wirklich begegneten. Das sei in den letzten Monaten überdeutlich geworden.

Demgegenüber plädierte der Patriarch zum Mut, "eine nicht ausgrenzende Sprache zu verwenden. Selbst in den schärfsten Konflikten und Widersprüchen soll sie einen tiefen und klaren Sinn für Menschlichkeit bewahren, denn so sehr wir sie auch durch unser eigenes schlechtes Verhalten entstellen mögen, wir alle bleiben immer Menschen, die nach dem Bild Gottes geschaffen sind."

Deshalb sollten "in der Öffentlichkeit und im Privaten, in den Medien, in Synagogen, Kirchen und Moscheen mutig Worte benutzt werden, die Horizonte öffnen und keinen Vorwand für Gewalt und Ablehnung bieten". Das Gleiche gelte für die Medien.

Als Kirche im Heiligen Land könne man zugleich bei allen Überlegungen Jesu Lehre nicht ignorieren, "denn er hat uns gelehrt, dass Vergebung, Gerechtigkeit und Wahrheit die Grundlage für den Frieden sind". Es sei daher die Aufgabe der Kirche im Heiligen Land, ihre Seelsorge auf diese Lehre zu stützen, "und die Worte Vergebung, Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden in einen ständigen, schwierigen, schmerzhaften, komplexen, zermürbenden und ermüdenden Dialog miteinander zu bringen".

"Wir müssen auch handeln"

Nur zu reden reiche jedoch nicht, "wir müssen auch handeln und dort sein, wo Menschen Not leiden", so der Patriarch, der auch über die konkrete Hilfe der Kirche informierte: "Unsere christliche Gemeinde ist zahlenmäßig klein, aber über das ganze Heilige Land verteilt: im Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel." Am schwierigsten sei die Lage in Gaza. Im Norden des Gazastreifens, in Gaza-Stadt, lebten nur noch knapp über sechshundert Christinnen und Christen. Sie alle seien in den beiden Kirchenkomplexen versammelt, in der katholischen Pfarre der Heiligen Familie und der orthodoxen St. Porphyrius-Kirche. Alle Häuser der Christen seien zerstört.

Pizzaballa: "In Gaza sind mehr als 80 Prozent der Häuser und die gesamte Infrastruktur zerstört: kein Wasser, kein Strom und keine anderen Versorgungsdienste. Im Norden des Gazastreifens, wo wir arbeiten und wo sich die christliche Gemeinde befindet, gibt es nur ein kleines, teilweise funktionierendes Krankenhaus für eine verbleibende Bevölkerung von rund 600.000 Menschen." Die Bevölkerung sei in jeder Hinsicht auf Hilfe von außen angewiesen, angefangen bei der Nahrungsmittelversorgung.

Mehrmals in der Woche würden die Christen in einer Gemeinschaftsküche für alle kochen. Und was gekocht werde, müsse für die ganze Woche reichen. "Letzte Woche gab es zum ersten Mal seit Ostern Fleisch." Es mangele an vollwertiger Nahrung; besonders Obst und Gemüse seien sehr schwer zu bekommen. Und das treffe besonders die schwächsten Bevölkerungsgruppen, wie die Kinder.

Auch die Schulen befänden sich in einer Notlage, so der Patriarch: "Das letzte Schuljahr konnte nicht stattfinden. Und das wird dieses Jahr wahrscheinlich genauso sein. Alle Schulen sind entweder zerstört oder werden als Notunterkünfte für vertriebene Familien genutzt." Vor dem Krieg hatte die christliche Gemeinde vier funktionierende Schulen, die nun zerstört seien. Die Kirche wolle zumindest eine der Schulen wieder öffnen, "damit unsere Kinder wieder lernen können".

Mit Hilfe verschiedener Organisationen versuche die Kirche, einige Tausend Familien mit Nahrungsmitteln zu versorgen und medizinische Hilfe zu leisten. Pizzaballa: "Alle zwei Wochen versuchen wir, 20 Tonnen Nahrungsmittel und lebensnotwendige Güter zu verteilen, und das trotz der schwierigen Umstände, die mit dem anhaltenden militärischen Konflikt verbunden sind." In den kommenden Wochen werde man zudem auch kleine Ambulanzen eröffnen, um medizinische Versorgung anzubieten.

Im Westjordanland, insbesondere in der Gegend von Bethlehem, wo viele Christinnen und Christen leben, sei die Lage nicht so dramatisch wie in Gaza, "aber wirtschaftlich ist sie sehr problematisch". Pilgerfahrten und religiöser Tourismus, eine der wichtigsten Einnahmequellen der Bevölkerung, seien völlig zum Erliegen gekommen, wodurch Hunderte von Familien bereits elf Monate ohne Arbeit seien.

Vor dem Krieg hätten über einhunderttausend Palästinenserinnen und Palästinenser täglich in Israel gearbeitet. Abgesehen von einigen wenigen Arbeitnehmern mit Genehmigungen seien sie jetzt fast alle zu Hause, ohne Aussicht auf eine künftige Klärung der Situation. Im nördlichen Westjordanland komme es zudem immer häufiger zu Zusammenstößen zwischen israelischen Siedlern und palästinensischen Gruppen.

Die israelischen Opfer nicht vergessen

Er wolle aber auch nicht die israelischen Opfer vergessen, so der Patriarch weiter: "Die Opfer des 7. Oktober, eines schrecklichen und unvorstellbaren Massakers, und auch nicht die israelischen Opfer, die in den letzten Monaten und Wochen gestorben sind." Die Auswirkungen auf die Bevölkerung seien sehr tiefgreifend und schmerzhaft. Es gebe auch in Israel, vor allem im Norden des Landes, Vertriebene wegen der Raketen, die die Hisbollah täglich abfeuere. "Die Gewalt hört nicht auf und muss verurteilt werden, woher sie auch kommt", so der Patriarch von Jerusalem: "Gewalt provoziert nur weitere Gewalt, ein Teufelskreis, dessen Ende nicht in Sicht ist. Und der Schmerz eines jeden muss respektiert werden, ohne Hierarchien zu bilden."

Es sei nicht leicht, aus der Spirale der Gewalt auszubrechen. Die Situation vor Ort bleibe sehr angespannt und problematisch, so Pizzaballa: "Deshalb glauben wir, dass das Ende des Konflikts noch nicht bevorsteht und dass wir mit dieser schrecklichen Situation noch lange umgehen müssen." In jedem Fall seien die Aussichten auf Frieden auf kurze oder mittlere Sicht nicht gut.

Aber, so Patriarch Pizzaballa: "Wir dürfen nicht aufgeben. Niemals aufgeben. Die Kirche wird die großen politischen Probleme des Nahen Ostens und des Heiligen Landes nicht lösen können. Aber sie wird weiterhin im Heiligen Land bleiben, ein Wort der Wahrheit und der Versöhnung sprechen und allen Menschen Hilfe und Nähe zukommen lassen."

Zur Gewaltlosigkeit erziehen

Das Gegenmittel gegen Gewalt und Verzweiflung bestehe darin, "Hoffnung zu schaffen und zu Hoffnung und Frieden zu erziehen". Schulen und Universitäten käme hier eine Schlüsselrolle zu: "Hier müssen wir beginnen, die Menschen zum Frieden und zur Gewaltlosigkeit zu erziehen, das heißt, einander zu glauben, zu kennen und zu schätzen, und vor allem einander zu begegnen, was im Moment leider nicht geschieht."

Propheten des Friedens zu sein bedeute, "unsere Aufmerksamkeit auf das Drama beider Völker zu richten, des israelischen und des palästinensischen. Wir müssen lernen, beide zu lieben, sie als Nachbarn und Freunde zu sehen." Nur so würden Mauern fallen und neue Brücken gebaut, die fähig sind zu "einer Liebe, die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt", so der Patriarch abschließend unter Zitierung von Papst Franziskus.

Patriarch Pizzaballa nahm als Gast an der Herbstvollversammlung der deutschen Bischofskonferenz in Fulda teil, die am 23. September begann und noch bis 26. September andauert, und informierte die Bischöfe über die Lage im Heiligen Land.